Montag, 11. April 2011

Tag 4 - Besteigung


Um halb fünf lässt uns der Wirt bei der Hintertür aus der Pension, nicht ohne uns zuvor ein ganzes Huhn mit auf den Weg gegeben zu haben. So stehen wir dann im Dunkeln unter einer Straßenlaterne, lauschen der Brandung und warten auf unseren Guide Toros. Der fährt bald mit einem Kleinlaster vor, wir werfen die Rucksäcke auf die Ladefläche und quetschen uns neben den Fahrersitz. Über immer schmaler werdende Strassen geht es vom Meer an der Südflanke des Musa Dagh in die Höhe, bis wir nach etwa einer halben Stunde Fahrt auf halber Strecke zwischen Kapisuyu und Hidirbey auf eine unwegsame Piste abbiegen, über die Toros seinen alten Laster noch einen halben Kilometer im ersten Gang steil bergan quält. Als er schließlich den Motor abdreht umfängt uns völlige Stille und Dunkelheit. Wir schultern die Rucksäcke und machen uns stolpernd auf den Weg. Ich entsinne mich, eine Stirnlampe eingesteckt zu haben, krame sie hervor und erhelle nicht ohne Stolz über meine gute Ausrüstung den steinigen Pfad. Toros aber bedeutet mir, die Lampe wieder auszumachen. So rutschen und stolpern wir also weiter, bis wir unversehens bei ein paar Felsen stehen bleiben. Toros raucht sich eine Zigarette an und wir stehen eher ratlos herum und wissen nicht, ob und wie es weiter gehen soll - verständigen können wir uns ja nicht wirklich. Weit unter uns glitzern die Lichter von Samandağ und im Osten kündigt sich der beginnende Morgen als graues Band am Horizont ab. Es weht ein böiger Wind und nieselt leicht. Unentschlossen, ob wir die Regenjacken überwerfen sollen, treten wir unbehaglich von einem Bein auf das andere, als es schlagartig heller wird. Toros hat offenbar darauf gewartet und wir marschieren weiter. 


Unsere Aufstiegsroute
Im stärker werdenden Nieselregen erreichen wir eine kleine Alm, wo wir in einem baufälligen Kuhstall Zuflucht suchen, die Regenjacken anziehen und eher desperat auf Steinen hocken. Wir beginnen uns mit dem Gedanken anzufreunden, dass es wohl nix wird mit unserer Besteigung. Aus Toros werden wir auch nicht recht schlau - er hockt neben uns, raucht und lächelt uns freundlich zu. Dann lässt der Regen nach und wir gehen weiter. Die Schwärze der Nacht haben wir gegen das White-out des Nebels getauscht. So leicht die Orientierung anfangs war, als wir noch einem klaren Pfad gefolgt sind, so unübersichtlich wird das Terrain jetzt. Nach der Anfangssteigung des Vorbaus haben wir das flachere Terrain des Damlajik, einer weitläufigen, felsdurchsetzten Hochalmfläche, erreicht. Immer wieder stoßen wir auf die gemauerten Reste armenischer Unterkünfte und Ställe. Hier hatten die Armenier ihr großes Lager aufgeschlagen, mit allem Nötigsten, dessen es bedurfte um fünftausend Menschen zu erhalten. Toros führt uns zu einem Brunnen, der die Wasserversorgung sichergestellt hatte. Sein Sohn, der etwas Englisch beherrscht, hat ihm einen Zettel mitgegeben, auf dem die wichtigsten Landmarks aufgelistet sind. Während wir gemeinsam versuchen, daraus schlau zu werden, essen wir herrlich saftige Orangen aus Toros‘ Hain.
Tristesse am Damlajik
Der alte Brunnen
Der Friedhof der gefallenen Kämpfer einst
Die Überreste des Friedhofs heute
Weglos irren wir durch die Nebelsuppe über die Hochfläche, nun nicht mehr nach Norden sondern nach Westen (ich habe mittlerweile komplett die Orientierung verloren). Die saftigen Almwiesen weichen zusehends dichter werdender Macchia, die uns bald fast mannshoch umgibt und uns beim Durchkämpfen endgültig durchnässt. Auch Toros scheint sich jetzt verlaufen zu haben und führt uns von einer Sackgasse in die nächste. Dabei bleibt er immer wieder stehen und lauscht auf ein seltsames Heulen, dass von irgendwo unweit ertönt. Nach ein paar weiteren Irrwegen findet er aber den Ausgang aus dem Labyrinth und vor uns öffnet sich das Terrain wieder. Ein gemauertes Rechteck taucht vor uns auf und Toros‘ mittlerweile schon sehr durchfeuchteter Zettel gibt Auskunft, dass es sich um einen Friedhof mit den Gräbern von 18 Männern handelt, die in den Blutigen Kämpfen um den Berg 1915 ihr Leben gelassen hatten. Ausser der Umfriedungsmauer ist von dem Friedhof aber nichts mehr übrig. Der Ursprung des seltsamen Heulens ist jetzt direkt vor uns und entpuppt sich als Mast, der über uns im weissen Nichts verschwindet. Vermutlich ist es ein Sendemast. Ganz in der Nähe steht ein eigenartiges, aus Stein gemauertes  Gebilde. Erst nachdem wir es ein paar Mal umrundet haben, erkennen wir, dass es sich um die Überreste des armenischen Denkmals handelt, das im Jahre 1932 anlässlich des 17. Jahrestages der Vertreibung bei einer Gedenkfeier enthüllt worden war. Das Denkmal war symbolisch in Form eines Schiffes gebaut worden, um an die Errettung durch die Guichen zu erinnern. Hier fanden sich alljährlich Armenier aus aller Welt ein, um der Opfer des Genozides zu gedenken. Der Militärputsch von 1980 setzte dem ein jähes Ende. Das Denkmal und der nahegelegene Friedhof wurden gesprengt und so schwer beschädigt, dass heute nur mehr Ruinen davon existieren. Der eigentliche Gipfel des Musa Dagh liegt noch gute dreihundert Meter höher, wir haben aber das Ziel unserer Tour erreicht. Wir schlichten noch ein paar Steine auf das Monument und betrachten schweigend mit Toros, dessen Vorfahren auch zu den Kämpfern und Vertriebenen gezählt haben, den kläglichen Steinhaufen, der für das traurige Schicksal eines Volkes steht. 
Das Denkmal am Gipfel vor der Sprengung
Die Überreste des Denkmals
Vom Denkmal steigen wir über einen schmalen Pfad den Westabbruch Richtung Meer hinab. Bald türmen sich über uns himmelhohe senkrechte Felsmauern unter denen sich der Pfad entlang schlängelt, bis zu einem Überhang, unter dem sich eine gemauerte Zisterne versteckt, die aus einer kleinen Quelle gespeist wird. Unweit davon macht Toros Anstalten, ein Feuer zu entzünden. Zunächst versuchen wir ihn davon abzubringen, denn uns erscheint es völlig aussichtslos, unter diesen Bedingungen ein Feuer in Gang zu bringen. Er lässt sich aber nicht beirren, schleppt Holz heran und versucht zunächst vergeblich mit Hilfe einer kleinen Kerze und Lorbeerblättern die Flammen zu entfachen. Wir stehen nutz- und ratlos daneben, frieren immer mehr und hoffen, dass Toros bald aufgibt. Auch unsere Überredungsversuche, das Huhn doch unten in der warmen Stube zu verzehren, stoßen auf taube Ohren. Wir staunen nicht schlecht als bald aus dem rauchenden Haufen Lorbeer die ersten Flammen züngeln und kurz darauf das schönste Feuerchen prasselt. Aus einem Versteck hinter einem Felsen zaubert Toros eine Teekanne hervor, aus seinem Rucksack fördert er Oliven, Tomaten, Käse, selbstgebackenes Fladenbrot und eine Flasche Raki hervor. Das Huhn steckt er auf Lorbeerspieße und grillt es fachgerecht. Währenddessen wärmen wir uns am Feuer und trinken uns mit dem Raki aus Pappbechern einen schönen Schwips an.  

Ob das was wird?
Maitre Toros kocht auf
Plötzlich reisst der Nebel auf und gibt den Blick aufs Meer frei. Von dichter Macchia bedeckt ziehen unter uns drei Geländerücken an die felsige Küste, gegen die wir sogar von hier oben die Gischt schäumen sehen. Hier hatten die Armenier eine riesige selbstgenähte Rotkreuzfahne mit der Aufschrift „Christen in Not“ gehisst. Am 12. September 1915 näherte sich das französische Kriegsschiff Guichen der levantinischen Küste und sah die Flagge. Vier weitere Kriegsschiffe stießen hinzu, bombardierten türkische Stellungen auf dem Berg und evakuierten am 15. September die 4048 Armenier ins ägyptische Port Said.

Der Himmel reisst auf 
Die Guichen vor dem Musa Dagh
Die Errettung der Armenier

Inzwischen ist das Hendl gar und wir verspeisen es genüsslich mit bloßen Fingern. Trocken sind wir mittlerweile auch und heilfroh, dass wir den guten Toros nicht vom Feuermachen abbringen konnten. Beim letzten Schluck Raki genießen wir noch einmal den Blick aufs Meer. Wie oft müssen die Belagerten damals verzweifelt Ausschau nach Rettung gehalten haben? Es gab mehrere Versuche, die an Dramatik schwer zu übertreffende Geschichte zu verfilmen, unter anderem zuletzt von Sylvester Stallone und Mel Gibson. Bislang sind aber solche Ansinnen stets unter dem massiven Druck der türkischen Regierung schon im Keim erstickt worden. Traurig, dass ein Volk, dem so viel Unrecht angetan wurde, bis heute von der internationalen Staatengemeinschaft, den Türken als Tätern allen voran, keine Anerkennung des Genozids, geschweige denn eine Entschuldigung erfahren hat.

Selten hat ein Hendl besser geschmeckt 
Unser Lagerplatz
Wolfgang und Toros
Wir räumen unser Lager auf und füllen noch einmal unsere Flaschen an der Quelle des Musa Dagh. Dann steigen wir wieder hinauf auf die Hochfläche und beginnen unseren Abstieg. Bald umhüllt uns erneut dichter Nebel, sodass wir beieinander bleiben müssen, um uns nicht zu verlieren. Als wir den Damlajik schließlich verlassen, tauchen wir auch unter den Nebel und sehen vor uns die Ebene von Samandağ unter der tiefen Wolkendecke liegen. Über die rutschigen Saumpfade erreichen wir bald Toros‘ Laster und nach kurzer Fahrt sind wir wieder in Vakifli, dem letzten Dorf der Armenier, wo auch Toros mit seiner Familie lebt. Er nennt ein schönes, altes, gemauertes Haus sein eigen, das idyllisch umgeben von Orangenbäumen am Rande Vakiflis liegt. Bei Tee aus dem Samowar und allerhand Gebäck versuchen wir uns über seine beiden halbwüchsigen Söhne zu verständigen. Zum Abschied bekommen wir noch Orangen und eine Flasche ziemlich sauren Wein von seinen eigenen Reben mit auf den Weg. 

Zu Gast bei Toros
Am späten Nachmittag treffen wir Inés und Rainer am Strand bei Selukia und fahren zurück nach Antakya, wo es noch einmal ein opulentes Abendessen gibt. Ermüdet von den Strapazen des langen Tages und zufrieden, dass wir das Ziel unserer Reise erreicht haben, fallen wir in die Betten des Büyük Antakya Oteli. Am nächsten Morgen, es ist mittlerweile Sonntag, fliegen wir über Istanbul zurück nach Wien, wo die Erlebnisse am Musa Dagh schon ganz unwirklich erscheinen.


Sonntag, 10. April 2011

Tag 3 - Annäherung


Den nächsten Tag beginnen wir mit einem ausgedehnten Strandspaziergang. Eigentlich wär‘s ja der schönste Platz der Welt: vor uns am südlichen Ende der Orontes-Bucht ragt der wolkenumkränzte Kegel des Dschabal al-Aqra 1.740 Meter hoch auf und markiert die Grenze zu Syrien, hinter uns werden die Ausläufer des Musa Dagh von der Brandung umspült, und dazwischen liegt der längste Sandstrand, den man sich denken kann. Geradezu paradiesisch also, wären da nicht die Zyprioten (die griechischen natürlich!), denn von denen käme doch der ganze Dreck, der den prachtvollen Sandstrand in eine grausige Müllhalde verwandelt. So erklärt es uns zumindest der Fischer, der von einem kleinen Riff seine Angel auswirft und ab und zu einen Istavrit aus dem Wasser zieht.

Fischer und Djebel-Akra
Diese Zyprioten! 
Balik
Mit dem Taxi kehren wir zurück in die Dörfer des Musa Dagh, zunächst wieder zur armenischen Kirche von Vakifli, wo wir unseren Führer für die morgige Tour kennenlernen. Es ist ein armenischer Bauer aus dem Dorf, der uns auf Anhieb sympathisch ist. Eigentlich hätte er gerne einmal ausgeschlafen, erklärt sich aber bereit uns morgen um halb 5 Uhr in der Früh in Seleukia abzuholen. Und ein Hendl sollen wir mitnehmen. Neben der Kirche, die eine umgebaute Seidenfabrik ist, befindet sich der Dorffriedhof, wo sich noch einige alte armenische Gräber, darunter auch jenes des Vaters der Geschwister Babikyan befindet. Sonst finden wir kaum armenische Namen, denn die wurden durch die Türken der typisch armenischen -yan Endung beraubt. Als nächstes besuchen wir Yoghonoluk, jenes Dorf, das in Werfels Roman als der Heimatort Gabriel Bagradians eine so zentrale Stellung einnimmt. Die alte armenische Kirche, in der einst der gregorianische Ter Haigasun gepredigt hatte, existiert noch, allerdings bückt sie sich heut verfallen unter der Last einer Moschee, die über ihr erbaut wurde. Wir kommen gerade recht zum Mittagsgebet und lauschen dem melodischen Ruf des Muezzin. Im nächsten Ort, Bitias, oder Batiayaz, wie es heute heisst, sorgen wir für ziemliche Aufregung, als wir nämlich bei der Schule, wo gerade große Pause ist, mit dem Lehrer ein Interview führen, das in einer hochoffiziellen Führung durch die Schule mit Unterbrechung des Unterrichts ausartet - zum größten Gaudium der Kinder, versteht sich.

Die alte Kirche von Yoghonoluk mit der später darüber errichteten Moschee
Das leer stehende Kirchenschiff
Die Schule von Bitias
Große Aufregung im Klassenzimmer
Inzwischen ist es Nachmittag geworden und wir machen uns auf den Rückweg nach Samandağ, nehmen dabei aber den Umweg über einen Hügel östlich der Stadt, auf dem sich der schon erwähnte Ruinenkomplex des St. Simeonsklosters befindet. Das Kloster wurde im 6. Jhdt. n. Chr. um eine aus dem Fels gehauene Säule gebaut. Von der Säule ist heute nur mehr ein Stumpf übrig, einst war sie aber 18 Meter hoch. Auf dem umgebenden achteckigen Platz konnten die Pilger zuhören, wie der Säulenheilige (oder Stylit) Simon der Ältere gegen die Ungerechtigkeiten in Antiochia und allzu menschliche Schwächen, wie das Verlangen nach einer guten Mahlzeit, wetterte. Er blieb bis zu seinem Tod im Jahre 489 auf ihr hocken. Ihm folgte Simeon der Jüngere nach, der gerade einmal siebenjährig die Säule bestieg und die nächsten 25 Jahre seines Lebens auf ihr verbringen sollte. 

Die Ruinen des St. Simeonsklosters
Das Wohnzimmer der Simeons
Wir kehren zurück nach Samandağ und sehen uns den Cemevi, das Versammlungshaus der Aleviten, an. Die Aleviten sind Mitglieder einer Religionsgemeinschaft, die eine Glaubensrichtung des Islam darstellt, die sich im 13. Jhdt. verselbstständigt hat. Obwohl die Aleviten etwa 15 bis 30 Prozent der türkischen Bevölkerung ausmachen, sind sie eine nicht anerkannte und diskriminierte Glaubensgruppe. Das Alevitentum ist eine vom Humanismus und Universalismus geprägte Religion, die sich unter anderem durch die Gleichberechtigung von Mann und Frau auszeichnet. Im Zentrum des Glaubens steht der Mensch als eigenverantwortliches Wesen, dem das Göttliche innewohnt.  Der Cemevi ist ein niedriger Kuppelbau, in dessen Zentrum eine weitere Kuppel steht, um welche die Gläubigen im Uhrzeigersinn betend wandeln. An Feiertagen werden hier Kulthandlungen, wie der Semah, ein ritueller Tanz, ausgeführt.  Wir drehen auch ein paar Runden und zünden Weihrauch an, der sich aus mehreren Kohlenbecken betörend im Raum verbreitet. Danach geraten wir unversehens in die rituelle Schlachtung eines Hahns, der für die Gesundung eines Kindes geopfert wurde.
Der Cemevi von Samandağ
Der Doktor und das liebe Vieh
Alter Patriarch
Nach einem guten Çay, den wir in der warmen Nachmittagssonne am Meeresufer schlürfen, beschließen wir den langen Tag mit einem weiten Strandspaziergang zurück zu unserer Pension. Abgesehen von den unglaublichen Mengen an Müll, allem voran Plastik, zieren den ansonsten so wunderschönen Strand monströs große Quallen, die von der Brandung angespült werden, um sich in der Sonne in Wasser aufzulösen. Den ganzen Rückweg ist der Musa Dagh in unserem Blickfeld, der von hier ganz und gar unspektakulär wie ein breiter Hügelrücken aussieht. Es dämmert bereits, als wir schließlich ankommen. Hungrig von der frischen Seeluft machen wir uns wieder mit großem Appetit über die herrlichen Vorspeisen und Fische her, die der armenische Koch erneut für uns gezaubert hat. Dann packen wir schon alles für die morgige Tour und gehen zeitig zu Bett, um ausgeschlafen zu sein.

Çay
Die Hänge des Musa Dagh
Blick zur syrischen Grenze und dem Djebel-akra

Samstag, 9. April 2011

Tag 2 - Erkundung


Nach einem herrlichen türkischen Frühstück erkunden wir am nächsten Vormittag die alten Viertel. Durch den sehr ursprünglichen Bazar flanieren wir durch die teils sehr malerischen Gassen immer höher auf den Bergrücken, der die Stadt im Südosten begrenzt, bis wir schließlich die St. Petrus Grotte, eine Höhlenkirche erreichen, in der sich nach der Überlieferung die erste christliche Gemeinde um Paulus, Barnabas und Petrus versammelte. Unweit der Kirche ist ein überlebensgroßes Reliefporträt in den Fels gemeisselt, das Charon, den Fährmann der Unterwelt darstellen soll.
Im Bazar von Antakya
Eine Moschee im Bazar 
Die Petrusgrotte
Mit dem Taxi fahren wir zurück in die Stadt und besuchen das archäologische Museum mit einer beeindruckenden Sammlung römischer Mosaike. Danach nähern wir uns erstmals dem Musa Dagh an. Von Antakya führt die Strasse durch eine Ebene 25 km in südwestlicher Richtung nach Samandağ, dem antiken Seleukia Pieria oder St. Simeon, benannt nach Symeon Stylites dem Jüngeren, einem Säulenheiligen, der im 6. nachchristlichen Jahrhundert hier 25 Jahre seines Lebens auf einer Säule verbrachte. Umgeben von riesigen Windrädern liegt die Ruine des St. Simeonsklosters auf einem Hügel östlich der Stadt. Doch die heben wir uns für den morgigen Tag auf. Wir wenden uns nach Norden, wo am Fuße des Musa Dagh die kleine Ortschaft Vakifli liegt.

Der Musa Dagh und Yoghonoluk
Altes armenisches Haus in Vakifli
Nur 123 Seelen wohnen hier, doch was den Ort so besonders macht, ist die Tatsache, dass es sich um das letzte armenische Dorf der Türkei handelt. Die Menschen, die heute hier leben, sind Nachkommen jener Armenier, die sich 1915 unter der Führung des Moses Der Kalousdian auf dem Musa Dagh 53 Tage lang erfolgreich gegen mehrere türkische Angriffswellen verteidigten, um schließlich am 15. September 1915 vom französischen Kriegsschiff Guichen gerettet zu werden. Als Franz Werfel sich Anfang des Jahres 1930 in Damaskus aufhielt, begegnete er in einer Teppichfabrik verstümmelten armenischen Waisenkindern. Dies erschütterte ihn derart, dass er den Entschluss fasste, den Abwehrkampf und das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes festzuhalten. Er begann zu recherchieren und schrieb das Buch zwischen 1932 und 1933 nieder. 

Armenische Waisenkinder
Moses der Kalousdian, der als Vorbild für Gabriel Bagradian diente
Die Verteidiger des Musa Dagh
Vakifli ist nur eines der sieben Dörfer am Fuße des Musa Dagh, die einst von Armeniern bewohnt waren. Franz Werfel beschreibt sie und den Berg im Roman so: „Da war Hadji Habibili, das Holzdorf! Seine Männer verfertigten nicht nur aus hartem Holz und Bein die besten Kämme, Pfeifen, Zigarettenspitzen und ähnliche Gegenstände des täglichen Gebrauchs, sondern sie schnitzten auch Kruzifixe, Madonnen, Heiligenfiguren, die bis nach Aleppo, Damaskus und Jerusalem ausgeführt wurden. Diese Schnitzereien, keine groben Bauernarbeiten, besaßen ihre Eigenart, wie sie nur im Schatten des heimatlichen Berges zu gedeihen vermochten. Wakef aber war das Spitzendorf! Denn die feinen Decken und Taschentücher der dortigen Frauen fanden ihre Kundschaft sogar bis Ägypten, ohne dass die Künstlerinnen freilich etwas davon wussten, die mit ihrer Ware nur bis auf den Markt in Antiochia gelangten, und dies kaum zweimal jährlich. Von Azir, dem Raupendorf, muss nicht mehr gesprochen werden. In Kheder Beg wurde die Seide gesponnen. In Yoghonoluk und Bitias, den beiden größten Flecken, fanden sich all diese Handwerksarten zusammen. Kebussije aber, der nördlichste, der verlorenste Ort, war das Bienendorf. Der Honig von Kebussije, so behauptete Gabriel Bagradian, finde auf der ganzen Welt nicht seinesgleichen. Die Bienen sogen ihn aus der innersten Essenz des Musa Dagh, aus seiner zauberhaften Begnadung, die ihn unter allen den melancholischen Gebirgen des Landes heraushob. Warum entsandte gerade er unzählige Quellen, von denen die meisten als schleiernde Kaskaden ins Meer fielen? (...) Die blumendurchwirkten Matten seiner Osthänge, die satten Almen auf seinem faltenreichen Rücken, die schmiegsamen Wein-, Aprikosen- und Orangengärten an seinem Fuß, die Eichen und Platanen in den dunkeldurchmurmelten Schluchten, die Freudenausbrüche von Rhododendron, Myrthenblüten und Azaleen an heimlichen Stellen, die schutzengelhafte Stille, in die sich Herden und Halterbuben verdämmernd schmiegten, dies alles schien nur leicht gestreift zu sein von den Folgen des Sündenfalls, unter deren karstiger Trauer das übrige Kleinasien seufzt. Durch irgendeine kleine Ungenauigkeit in der göttlichen Weltordnung, durch die gutmütige Bestechlichkeit eines heimatliebenden Cherubs schien sich in den Revieren des Musa Dagh ein Bodensatz, ein Abstrahl, ein Nachgeschmack des Paradieses verfangen zu haben. Hier, an der syrischen Küste, und nicht etwa tief unten im Vierstromland, wohin die geographischen Bibelerklärer den Garten Eden gerne versetzten.“

Das Holz von Hadji Habibili
Der Honig von Kebussije
Die Spitzen von Wakef
Orangenhain in Vakifli
Bei der armenischen Kirche in Vakifli erkundigen wir uns nach dem Bruder von Frau Cocyan, einer in Wien lebenden Armenierin aus Vakifli, zu der Wolfgang im Vorfeld der Reise Kontakt aufgenommen hatte. Herr Babikyan ist ein eleganter armenischer Gentleman, der uns Rede und Antwort zu vielen Fragen über Gegenwart und Vergangenheit steht. Ausserdem vermittelt er uns einen Führer für die geplante Besteigung und ein Quartier.

Herr Babikyan, der mittlerweile leider verstorben ist
Das Gemeindezentrum von Vakifli
Mit dem Taxi fahren wir weiter nach Hidirbey, wo am Dorfplatz eine gewaltige Platane von wahrhaft biblischem Alter steht. Einst soll hier Moses seinen Wanderstab in den Boden gerammt  haben, um aus einer Quelle zu trinken. Als er danach aufbrach, um den nach ihm benannten Berg, den Musa Dagh, zu besteigen, vergass er den Stock, aus dem eben jene Platane wuchs. Der Baum ist innen hohl, weist einen Umfang von 35 Metern auf und ist vermutlich 900 Jahre alt. Heute sitzen im Schatten der Platane die Männer des Dorfes beim Çay und spielen Tavla, Bingo und Karten. Auch wir setzen uns dazu, genießen die entspannte Atmosphäre und schlürfen Çay. 


Die Platane von Hidirbey
Im Çayhane
Bingo
Am Rückweg zu unserem heutigen Quartier machen wir einen Abstecher zum Titus Tunnel. Diesen ließ Kaiser Vespasian im 1. Jhdt. n. Chr. bauen, um die regelmäßigen Überschwemmungen, welche Seleukia Pieria verwüsteten, umzuleiten. Der Kanal wurde schließlich unter seinem Sohn Titus fertiggestellt und ist bis heute großteils erhalten geblieben. Über einen schmalen Pfad entlang eines kleinen Flusslaufs, der in einer immer tiefer werdenden Schlucht verschwindet, wandern wir im Licht der schon tief stehenden Sonne durch Lorbeer- und Feigenbäume bis zu einer schönen Bogenbrücke. Hier führt der Weg in einen dunklen Tunnel, der aus dem harten Fels geschlagen wurde - eine unglaubliche baumeisterliche Leistung. Wir dringen nur ein kurzes Stück in den Tunnel vor, bis uns die zunehmende Dunkelheit zur Umkehr zwingt. Insgesamt ist der Tunnel 1,3 km lang, 7 m hoch und 6 m breit. Eine weitere Funktion des Tunnels lag darin, mit dem Wasser aus den Bergen die Verlandung des Hafens von Seleukia Pieria zu verhindern, ein letztlich vergebliches Unterfangen - der alte Hafen liegt heute etwa 2 km vom Meer entfernt. Nahe dem Tunnel befindet sich die Beşikli Höhle, eine antike Nekropolis in Form einer in den Kalkfelsen gehauenen Höhle mit an die hundert Alkoven in Boden und Wänden.

Der Titus Tunnel 
Die Nekropole von Beşikli
Unsere Unterkunft am Fuße des Musa Dagh
Es dämmert schon, als wir schließlich unser die Pansiyon Çevoka in Seleukia erreichen. Die ganz einfache Herberge ist am nördlichen Ende der Bucht von Samandağ gelegen, dort, wo die westlichen Ausläufer des Musa Dagh bis ans Meer reichen. Die Zimmer sind einfach, aber sauber, das Interieur ist scheußlich und das Essen herrlich. Zum Aperitif gibt es Rakı, der erst so richtig hungrig macht auf die köstlichen Vorspeisen, die vom eifrigen Wirt aufgetragen werden, bis auf dem Tisch kein Platz mehr ist. Als Hauptgang gibt es Fisch zum dem sich der Fischer höchstselbst zu uns gesellt und uns im fachgerechten Verzehr unterweist: niemals sei Besteck, sondern stets nur die Finger zu verwenden, Zitrone ist tabu, frischer Zwiebel dafür ein Muss. Und tatsächlich haben Fische selten besser geschmeckt, als jene, die wir an diesem Abend verzehren. Das bestätigt auch Rainer - und der muss es wissen...


Martialischer Nippes 
Fingerfood