Samstag, 9. April 2011

Tag 2 - Erkundung


Nach einem herrlichen türkischen Frühstück erkunden wir am nächsten Vormittag die alten Viertel. Durch den sehr ursprünglichen Bazar flanieren wir durch die teils sehr malerischen Gassen immer höher auf den Bergrücken, der die Stadt im Südosten begrenzt, bis wir schließlich die St. Petrus Grotte, eine Höhlenkirche erreichen, in der sich nach der Überlieferung die erste christliche Gemeinde um Paulus, Barnabas und Petrus versammelte. Unweit der Kirche ist ein überlebensgroßes Reliefporträt in den Fels gemeisselt, das Charon, den Fährmann der Unterwelt darstellen soll.
Im Bazar von Antakya
Eine Moschee im Bazar 
Die Petrusgrotte
Mit dem Taxi fahren wir zurück in die Stadt und besuchen das archäologische Museum mit einer beeindruckenden Sammlung römischer Mosaike. Danach nähern wir uns erstmals dem Musa Dagh an. Von Antakya führt die Strasse durch eine Ebene 25 km in südwestlicher Richtung nach Samandağ, dem antiken Seleukia Pieria oder St. Simeon, benannt nach Symeon Stylites dem Jüngeren, einem Säulenheiligen, der im 6. nachchristlichen Jahrhundert hier 25 Jahre seines Lebens auf einer Säule verbrachte. Umgeben von riesigen Windrädern liegt die Ruine des St. Simeonsklosters auf einem Hügel östlich der Stadt. Doch die heben wir uns für den morgigen Tag auf. Wir wenden uns nach Norden, wo am Fuße des Musa Dagh die kleine Ortschaft Vakifli liegt.

Der Musa Dagh und Yoghonoluk
Altes armenisches Haus in Vakifli
Nur 123 Seelen wohnen hier, doch was den Ort so besonders macht, ist die Tatsache, dass es sich um das letzte armenische Dorf der Türkei handelt. Die Menschen, die heute hier leben, sind Nachkommen jener Armenier, die sich 1915 unter der Führung des Moses Der Kalousdian auf dem Musa Dagh 53 Tage lang erfolgreich gegen mehrere türkische Angriffswellen verteidigten, um schließlich am 15. September 1915 vom französischen Kriegsschiff Guichen gerettet zu werden. Als Franz Werfel sich Anfang des Jahres 1930 in Damaskus aufhielt, begegnete er in einer Teppichfabrik verstümmelten armenischen Waisenkindern. Dies erschütterte ihn derart, dass er den Entschluss fasste, den Abwehrkampf und das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes festzuhalten. Er begann zu recherchieren und schrieb das Buch zwischen 1932 und 1933 nieder. 

Armenische Waisenkinder
Moses der Kalousdian, der als Vorbild für Gabriel Bagradian diente
Die Verteidiger des Musa Dagh
Vakifli ist nur eines der sieben Dörfer am Fuße des Musa Dagh, die einst von Armeniern bewohnt waren. Franz Werfel beschreibt sie und den Berg im Roman so: „Da war Hadji Habibili, das Holzdorf! Seine Männer verfertigten nicht nur aus hartem Holz und Bein die besten Kämme, Pfeifen, Zigarettenspitzen und ähnliche Gegenstände des täglichen Gebrauchs, sondern sie schnitzten auch Kruzifixe, Madonnen, Heiligenfiguren, die bis nach Aleppo, Damaskus und Jerusalem ausgeführt wurden. Diese Schnitzereien, keine groben Bauernarbeiten, besaßen ihre Eigenart, wie sie nur im Schatten des heimatlichen Berges zu gedeihen vermochten. Wakef aber war das Spitzendorf! Denn die feinen Decken und Taschentücher der dortigen Frauen fanden ihre Kundschaft sogar bis Ägypten, ohne dass die Künstlerinnen freilich etwas davon wussten, die mit ihrer Ware nur bis auf den Markt in Antiochia gelangten, und dies kaum zweimal jährlich. Von Azir, dem Raupendorf, muss nicht mehr gesprochen werden. In Kheder Beg wurde die Seide gesponnen. In Yoghonoluk und Bitias, den beiden größten Flecken, fanden sich all diese Handwerksarten zusammen. Kebussije aber, der nördlichste, der verlorenste Ort, war das Bienendorf. Der Honig von Kebussije, so behauptete Gabriel Bagradian, finde auf der ganzen Welt nicht seinesgleichen. Die Bienen sogen ihn aus der innersten Essenz des Musa Dagh, aus seiner zauberhaften Begnadung, die ihn unter allen den melancholischen Gebirgen des Landes heraushob. Warum entsandte gerade er unzählige Quellen, von denen die meisten als schleiernde Kaskaden ins Meer fielen? (...) Die blumendurchwirkten Matten seiner Osthänge, die satten Almen auf seinem faltenreichen Rücken, die schmiegsamen Wein-, Aprikosen- und Orangengärten an seinem Fuß, die Eichen und Platanen in den dunkeldurchmurmelten Schluchten, die Freudenausbrüche von Rhododendron, Myrthenblüten und Azaleen an heimlichen Stellen, die schutzengelhafte Stille, in die sich Herden und Halterbuben verdämmernd schmiegten, dies alles schien nur leicht gestreift zu sein von den Folgen des Sündenfalls, unter deren karstiger Trauer das übrige Kleinasien seufzt. Durch irgendeine kleine Ungenauigkeit in der göttlichen Weltordnung, durch die gutmütige Bestechlichkeit eines heimatliebenden Cherubs schien sich in den Revieren des Musa Dagh ein Bodensatz, ein Abstrahl, ein Nachgeschmack des Paradieses verfangen zu haben. Hier, an der syrischen Küste, und nicht etwa tief unten im Vierstromland, wohin die geographischen Bibelerklärer den Garten Eden gerne versetzten.“

Das Holz von Hadji Habibili
Der Honig von Kebussije
Die Spitzen von Wakef
Orangenhain in Vakifli
Bei der armenischen Kirche in Vakifli erkundigen wir uns nach dem Bruder von Frau Cocyan, einer in Wien lebenden Armenierin aus Vakifli, zu der Wolfgang im Vorfeld der Reise Kontakt aufgenommen hatte. Herr Babikyan ist ein eleganter armenischer Gentleman, der uns Rede und Antwort zu vielen Fragen über Gegenwart und Vergangenheit steht. Ausserdem vermittelt er uns einen Führer für die geplante Besteigung und ein Quartier.

Herr Babikyan, der mittlerweile leider verstorben ist
Das Gemeindezentrum von Vakifli
Mit dem Taxi fahren wir weiter nach Hidirbey, wo am Dorfplatz eine gewaltige Platane von wahrhaft biblischem Alter steht. Einst soll hier Moses seinen Wanderstab in den Boden gerammt  haben, um aus einer Quelle zu trinken. Als er danach aufbrach, um den nach ihm benannten Berg, den Musa Dagh, zu besteigen, vergass er den Stock, aus dem eben jene Platane wuchs. Der Baum ist innen hohl, weist einen Umfang von 35 Metern auf und ist vermutlich 900 Jahre alt. Heute sitzen im Schatten der Platane die Männer des Dorfes beim Çay und spielen Tavla, Bingo und Karten. Auch wir setzen uns dazu, genießen die entspannte Atmosphäre und schlürfen Çay. 


Die Platane von Hidirbey
Im Çayhane
Bingo
Am Rückweg zu unserem heutigen Quartier machen wir einen Abstecher zum Titus Tunnel. Diesen ließ Kaiser Vespasian im 1. Jhdt. n. Chr. bauen, um die regelmäßigen Überschwemmungen, welche Seleukia Pieria verwüsteten, umzuleiten. Der Kanal wurde schließlich unter seinem Sohn Titus fertiggestellt und ist bis heute großteils erhalten geblieben. Über einen schmalen Pfad entlang eines kleinen Flusslaufs, der in einer immer tiefer werdenden Schlucht verschwindet, wandern wir im Licht der schon tief stehenden Sonne durch Lorbeer- und Feigenbäume bis zu einer schönen Bogenbrücke. Hier führt der Weg in einen dunklen Tunnel, der aus dem harten Fels geschlagen wurde - eine unglaubliche baumeisterliche Leistung. Wir dringen nur ein kurzes Stück in den Tunnel vor, bis uns die zunehmende Dunkelheit zur Umkehr zwingt. Insgesamt ist der Tunnel 1,3 km lang, 7 m hoch und 6 m breit. Eine weitere Funktion des Tunnels lag darin, mit dem Wasser aus den Bergen die Verlandung des Hafens von Seleukia Pieria zu verhindern, ein letztlich vergebliches Unterfangen - der alte Hafen liegt heute etwa 2 km vom Meer entfernt. Nahe dem Tunnel befindet sich die Beşikli Höhle, eine antike Nekropolis in Form einer in den Kalkfelsen gehauenen Höhle mit an die hundert Alkoven in Boden und Wänden.

Der Titus Tunnel 
Die Nekropole von Beşikli
Unsere Unterkunft am Fuße des Musa Dagh
Es dämmert schon, als wir schließlich unser die Pansiyon Çevoka in Seleukia erreichen. Die ganz einfache Herberge ist am nördlichen Ende der Bucht von Samandağ gelegen, dort, wo die westlichen Ausläufer des Musa Dagh bis ans Meer reichen. Die Zimmer sind einfach, aber sauber, das Interieur ist scheußlich und das Essen herrlich. Zum Aperitif gibt es Rakı, der erst so richtig hungrig macht auf die köstlichen Vorspeisen, die vom eifrigen Wirt aufgetragen werden, bis auf dem Tisch kein Platz mehr ist. Als Hauptgang gibt es Fisch zum dem sich der Fischer höchstselbst zu uns gesellt und uns im fachgerechten Verzehr unterweist: niemals sei Besteck, sondern stets nur die Finger zu verwenden, Zitrone ist tabu, frischer Zwiebel dafür ein Muss. Und tatsächlich haben Fische selten besser geschmeckt, als jene, die wir an diesem Abend verzehren. Das bestätigt auch Rainer - und der muss es wissen...


Martialischer Nippes 
Fingerfood


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