Montag, 11. April 2011

Tag 4 - Besteigung


Um halb fünf lässt uns der Wirt bei der Hintertür aus der Pension, nicht ohne uns zuvor ein ganzes Huhn mit auf den Weg gegeben zu haben. So stehen wir dann im Dunkeln unter einer Straßenlaterne, lauschen der Brandung und warten auf unseren Guide Toros. Der fährt bald mit einem Kleinlaster vor, wir werfen die Rucksäcke auf die Ladefläche und quetschen uns neben den Fahrersitz. Über immer schmaler werdende Strassen geht es vom Meer an der Südflanke des Musa Dagh in die Höhe, bis wir nach etwa einer halben Stunde Fahrt auf halber Strecke zwischen Kapisuyu und Hidirbey auf eine unwegsame Piste abbiegen, über die Toros seinen alten Laster noch einen halben Kilometer im ersten Gang steil bergan quält. Als er schließlich den Motor abdreht umfängt uns völlige Stille und Dunkelheit. Wir schultern die Rucksäcke und machen uns stolpernd auf den Weg. Ich entsinne mich, eine Stirnlampe eingesteckt zu haben, krame sie hervor und erhelle nicht ohne Stolz über meine gute Ausrüstung den steinigen Pfad. Toros aber bedeutet mir, die Lampe wieder auszumachen. So rutschen und stolpern wir also weiter, bis wir unversehens bei ein paar Felsen stehen bleiben. Toros raucht sich eine Zigarette an und wir stehen eher ratlos herum und wissen nicht, ob und wie es weiter gehen soll - verständigen können wir uns ja nicht wirklich. Weit unter uns glitzern die Lichter von Samandağ und im Osten kündigt sich der beginnende Morgen als graues Band am Horizont ab. Es weht ein böiger Wind und nieselt leicht. Unentschlossen, ob wir die Regenjacken überwerfen sollen, treten wir unbehaglich von einem Bein auf das andere, als es schlagartig heller wird. Toros hat offenbar darauf gewartet und wir marschieren weiter. 


Unsere Aufstiegsroute
Im stärker werdenden Nieselregen erreichen wir eine kleine Alm, wo wir in einem baufälligen Kuhstall Zuflucht suchen, die Regenjacken anziehen und eher desperat auf Steinen hocken. Wir beginnen uns mit dem Gedanken anzufreunden, dass es wohl nix wird mit unserer Besteigung. Aus Toros werden wir auch nicht recht schlau - er hockt neben uns, raucht und lächelt uns freundlich zu. Dann lässt der Regen nach und wir gehen weiter. Die Schwärze der Nacht haben wir gegen das White-out des Nebels getauscht. So leicht die Orientierung anfangs war, als wir noch einem klaren Pfad gefolgt sind, so unübersichtlich wird das Terrain jetzt. Nach der Anfangssteigung des Vorbaus haben wir das flachere Terrain des Damlajik, einer weitläufigen, felsdurchsetzten Hochalmfläche, erreicht. Immer wieder stoßen wir auf die gemauerten Reste armenischer Unterkünfte und Ställe. Hier hatten die Armenier ihr großes Lager aufgeschlagen, mit allem Nötigsten, dessen es bedurfte um fünftausend Menschen zu erhalten. Toros führt uns zu einem Brunnen, der die Wasserversorgung sichergestellt hatte. Sein Sohn, der etwas Englisch beherrscht, hat ihm einen Zettel mitgegeben, auf dem die wichtigsten Landmarks aufgelistet sind. Während wir gemeinsam versuchen, daraus schlau zu werden, essen wir herrlich saftige Orangen aus Toros‘ Hain.
Tristesse am Damlajik
Der alte Brunnen
Der Friedhof der gefallenen Kämpfer einst
Die Überreste des Friedhofs heute
Weglos irren wir durch die Nebelsuppe über die Hochfläche, nun nicht mehr nach Norden sondern nach Westen (ich habe mittlerweile komplett die Orientierung verloren). Die saftigen Almwiesen weichen zusehends dichter werdender Macchia, die uns bald fast mannshoch umgibt und uns beim Durchkämpfen endgültig durchnässt. Auch Toros scheint sich jetzt verlaufen zu haben und führt uns von einer Sackgasse in die nächste. Dabei bleibt er immer wieder stehen und lauscht auf ein seltsames Heulen, dass von irgendwo unweit ertönt. Nach ein paar weiteren Irrwegen findet er aber den Ausgang aus dem Labyrinth und vor uns öffnet sich das Terrain wieder. Ein gemauertes Rechteck taucht vor uns auf und Toros‘ mittlerweile schon sehr durchfeuchteter Zettel gibt Auskunft, dass es sich um einen Friedhof mit den Gräbern von 18 Männern handelt, die in den Blutigen Kämpfen um den Berg 1915 ihr Leben gelassen hatten. Ausser der Umfriedungsmauer ist von dem Friedhof aber nichts mehr übrig. Der Ursprung des seltsamen Heulens ist jetzt direkt vor uns und entpuppt sich als Mast, der über uns im weissen Nichts verschwindet. Vermutlich ist es ein Sendemast. Ganz in der Nähe steht ein eigenartiges, aus Stein gemauertes  Gebilde. Erst nachdem wir es ein paar Mal umrundet haben, erkennen wir, dass es sich um die Überreste des armenischen Denkmals handelt, das im Jahre 1932 anlässlich des 17. Jahrestages der Vertreibung bei einer Gedenkfeier enthüllt worden war. Das Denkmal war symbolisch in Form eines Schiffes gebaut worden, um an die Errettung durch die Guichen zu erinnern. Hier fanden sich alljährlich Armenier aus aller Welt ein, um der Opfer des Genozides zu gedenken. Der Militärputsch von 1980 setzte dem ein jähes Ende. Das Denkmal und der nahegelegene Friedhof wurden gesprengt und so schwer beschädigt, dass heute nur mehr Ruinen davon existieren. Der eigentliche Gipfel des Musa Dagh liegt noch gute dreihundert Meter höher, wir haben aber das Ziel unserer Tour erreicht. Wir schlichten noch ein paar Steine auf das Monument und betrachten schweigend mit Toros, dessen Vorfahren auch zu den Kämpfern und Vertriebenen gezählt haben, den kläglichen Steinhaufen, der für das traurige Schicksal eines Volkes steht. 
Das Denkmal am Gipfel vor der Sprengung
Die Überreste des Denkmals
Vom Denkmal steigen wir über einen schmalen Pfad den Westabbruch Richtung Meer hinab. Bald türmen sich über uns himmelhohe senkrechte Felsmauern unter denen sich der Pfad entlang schlängelt, bis zu einem Überhang, unter dem sich eine gemauerte Zisterne versteckt, die aus einer kleinen Quelle gespeist wird. Unweit davon macht Toros Anstalten, ein Feuer zu entzünden. Zunächst versuchen wir ihn davon abzubringen, denn uns erscheint es völlig aussichtslos, unter diesen Bedingungen ein Feuer in Gang zu bringen. Er lässt sich aber nicht beirren, schleppt Holz heran und versucht zunächst vergeblich mit Hilfe einer kleinen Kerze und Lorbeerblättern die Flammen zu entfachen. Wir stehen nutz- und ratlos daneben, frieren immer mehr und hoffen, dass Toros bald aufgibt. Auch unsere Überredungsversuche, das Huhn doch unten in der warmen Stube zu verzehren, stoßen auf taube Ohren. Wir staunen nicht schlecht als bald aus dem rauchenden Haufen Lorbeer die ersten Flammen züngeln und kurz darauf das schönste Feuerchen prasselt. Aus einem Versteck hinter einem Felsen zaubert Toros eine Teekanne hervor, aus seinem Rucksack fördert er Oliven, Tomaten, Käse, selbstgebackenes Fladenbrot und eine Flasche Raki hervor. Das Huhn steckt er auf Lorbeerspieße und grillt es fachgerecht. Währenddessen wärmen wir uns am Feuer und trinken uns mit dem Raki aus Pappbechern einen schönen Schwips an.  

Ob das was wird?
Maitre Toros kocht auf
Plötzlich reisst der Nebel auf und gibt den Blick aufs Meer frei. Von dichter Macchia bedeckt ziehen unter uns drei Geländerücken an die felsige Küste, gegen die wir sogar von hier oben die Gischt schäumen sehen. Hier hatten die Armenier eine riesige selbstgenähte Rotkreuzfahne mit der Aufschrift „Christen in Not“ gehisst. Am 12. September 1915 näherte sich das französische Kriegsschiff Guichen der levantinischen Küste und sah die Flagge. Vier weitere Kriegsschiffe stießen hinzu, bombardierten türkische Stellungen auf dem Berg und evakuierten am 15. September die 4048 Armenier ins ägyptische Port Said.

Der Himmel reisst auf 
Die Guichen vor dem Musa Dagh
Die Errettung der Armenier

Inzwischen ist das Hendl gar und wir verspeisen es genüsslich mit bloßen Fingern. Trocken sind wir mittlerweile auch und heilfroh, dass wir den guten Toros nicht vom Feuermachen abbringen konnten. Beim letzten Schluck Raki genießen wir noch einmal den Blick aufs Meer. Wie oft müssen die Belagerten damals verzweifelt Ausschau nach Rettung gehalten haben? Es gab mehrere Versuche, die an Dramatik schwer zu übertreffende Geschichte zu verfilmen, unter anderem zuletzt von Sylvester Stallone und Mel Gibson. Bislang sind aber solche Ansinnen stets unter dem massiven Druck der türkischen Regierung schon im Keim erstickt worden. Traurig, dass ein Volk, dem so viel Unrecht angetan wurde, bis heute von der internationalen Staatengemeinschaft, den Türken als Tätern allen voran, keine Anerkennung des Genozids, geschweige denn eine Entschuldigung erfahren hat.

Selten hat ein Hendl besser geschmeckt 
Unser Lagerplatz
Wolfgang und Toros
Wir räumen unser Lager auf und füllen noch einmal unsere Flaschen an der Quelle des Musa Dagh. Dann steigen wir wieder hinauf auf die Hochfläche und beginnen unseren Abstieg. Bald umhüllt uns erneut dichter Nebel, sodass wir beieinander bleiben müssen, um uns nicht zu verlieren. Als wir den Damlajik schließlich verlassen, tauchen wir auch unter den Nebel und sehen vor uns die Ebene von Samandağ unter der tiefen Wolkendecke liegen. Über die rutschigen Saumpfade erreichen wir bald Toros‘ Laster und nach kurzer Fahrt sind wir wieder in Vakifli, dem letzten Dorf der Armenier, wo auch Toros mit seiner Familie lebt. Er nennt ein schönes, altes, gemauertes Haus sein eigen, das idyllisch umgeben von Orangenbäumen am Rande Vakiflis liegt. Bei Tee aus dem Samowar und allerhand Gebäck versuchen wir uns über seine beiden halbwüchsigen Söhne zu verständigen. Zum Abschied bekommen wir noch Orangen und eine Flasche ziemlich sauren Wein von seinen eigenen Reben mit auf den Weg. 

Zu Gast bei Toros
Am späten Nachmittag treffen wir Inés und Rainer am Strand bei Selukia und fahren zurück nach Antakya, wo es noch einmal ein opulentes Abendessen gibt. Ermüdet von den Strapazen des langen Tages und zufrieden, dass wir das Ziel unserer Reise erreicht haben, fallen wir in die Betten des Büyük Antakya Oteli. Am nächsten Morgen, es ist mittlerweile Sonntag, fliegen wir über Istanbul zurück nach Wien, wo die Erlebnisse am Musa Dagh schon ganz unwirklich erscheinen.


2 Kommentare:

  1. Ein wirklich schöner Bericht. An einigen Orten war ich selbst und sie sind wirklich so schön wie hier beschrieben.
    Allerdings muss ich eine Kleinigkeit korrigieren. Das Cem Evi ist gar kein Cem Evi, sondern ein Türbesi. Die (meisten) Bewohner sind nämlich keine Aleviten, sondern Alawiten/Nusairer. Deshalb sind auch die von Ihnen beschriebenen rituellen Praktiken nicht richtig.
    Verzeihung für diese Korrektur aber das war mir persönlich wichtig.
    Ansonsten ist dieser Text wirklich wundervoll. Danke.

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  2. Sehr schöner Bericht! Vielen Dank!

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